Wenn Anfang August der Flugplatz Hildesheim-Drispenstedt erneut zur Kathedrale der Dunkelheit wird, dann versammelt sich die Familie der Schwarzen Szene zur vielleicht wichtigsten Messe des Jahres: dem M’era Luna Festival. 2025 feiert dieses einzigartige Ereignis sein 25. Jubiläum – ein Vierteljahrhundert voll düsterer Klänge, gelebter Subkultur, flackernder Flammen und elektrisierender Zusammengehörigkeit. Was im Jahr 2000 als ambitioniertes Nischenfestival begann, ist längst ein Fixstern am Firmament europäischer Open-Air-Veranstaltungen geworden. Das M’era Luna ist kein Ort, den man bloß besucht – es ist ein Gefühl, ein Ritual, ein Lebenszeichen gegen den Stillstand. Zwei Tage lang schlägt das schwarze Herz der Szene dort besonders laut, wo zwischen alten Hangars, Tanzflächen, Modenschauen, Lesungen und Mittelaltermarkt das Unkonventionelle regiert. Und auch 2025 wird dieser Kult mit einem Line-up gefeiert, das die Geschichte ehrt, die Gegenwart feiert und die Zukunft vorbereitet.
Samstag: Der erste Schlag in die Dunkelheit
Der Samstag beginnt früh, doch Müdigkeit kennt man hier nicht. Schon am späten Vormittag füllt sich das Infield mit Lack, Leder, Samt, Stahlkorsetts und unzähligen Nuancen von Schwarz. Der Tag wird eröffnet mit der druckvollen Mischung aus Erwartung, Energie und einem line-up, das für viele Besucherinnen und Besucher gleich mit einem persönlichen Höhepunkt aufwartet. Eisbrecher stehen an diesem Tag ganz oben – nicht nur im Programm, sondern auch im kollektiven Szeneherz. Frontmann Alexander Wesselsky, der ironisch-scharfe Zeremonienmeister der Neuen Deutschen Härte, wird mit der „Kaltfront“ im Gepäck erneut eine Show abliefern, die zwischen brachialer Härte, elektronischer Präzision und kabarettreifem Entertainment pendelt. Mit jeder Platte hat sich diese Band tiefer ins Genre gemeißelt, und auf einem Festival wie diesem liefern sie mehr als bloße Konzerte – sie liefern ein Machtwort.
Doch wer denkt, der Samstag würde sich allein auf Härte verlassen, der irrt gewaltig. Mit Heilung folgt ein Kontrast, wie ihn nur das M’era Luna zulassen kann. Die rituell-performative Formation aus Dänemark und Norwegen verwandelt jede Bühne in ein archaisches Schauspiel. Der Klang von Tierknochen, Trommeln, kehligen Chören und uralten Zungen erhebt sich über das Gelände wie ein Schamanengesang aus einer vergessenen Welt. Heilung sind keine Band im klassischen Sinn – sie sind ein kollektiver Trancezustand, ein archaischer Ausnahmezustand, ein Erlebnis, das weit über Musik hinausgeht. Der Flugplatz Hildesheim wird für eine Stunde zur Schwelle zwischen Diesseits und Anderwelt.
Den nächsten Akzent setzen Apocalyptica. Die finnischen Cello-Metaller sind seit den Neunzigern fester Bestandteil der düsteren Subkultur – und ihre Auftritte stets voller Dramatik, Präzision und musikalischer Größe. Ob mit eigenen Songs oder alten Metallica-Stücken, die Transformation von klassischem Instrumentarium in brachialen Klang war nie bloß eine Idee – sie wurde zur Kunstform. Drei Cellisten und ein Drummer genügen, um die Soundwand einer ganzen Metalband zu erschaffen, und wenn sich ihr instrumentales Donnerwetter mit dem klagenden Timbre des Cellos verbindet, geht ein raunen durch die Reihen.
Mit Peter Murphy kehrt eine der ikonischsten Stimmen des Gothic Rock an einen Ort zurück, der wie gemacht scheint für seine Musik. Der ehemalige Bauhaus-Sänger verkörpert wie kaum ein anderer die Ästhetik und Melancholie einer ganzen Ära. Jeder Ton, jeder Schritt, jeder Blick erinnert daran, wie viel Ursprung, wie viel Einfluss, wie viel Bedeutung in dieser Musik liegt. Es ist ein Geschenk, eine Stimme von solcher Tragweite nicht nur zu hören, sondern zu erleben. Wenn Murphy die Bühne betritt, betreten die Schatten der Szene ihre Ursprünge.
Covenant führen den Samstag in tanzbarere Gefilde. Die Schweden sind seit Jahrzehnten Aushängeschild des Futurepop – und live eine Maschine aus Licht, Klang und synthetischer Eleganz. Ihr Sound oszilliert zwischen kalter Perfektion und sehnsüchtiger Weite, zwischen tanzbarem Eskapismus und introspektiver Tiefe. Ihre Shows sind ein stilles Beben, das in die Beine fährt und doch im Kopf bleibt. Und wenn die ersten Takte von „Call the Ships to Port“ erklingen, weiß man, dass man genau hier sein sollte.
Auch Faun gehören zu den besonderen Momenten dieses Samstags. Die Band hat die Mittelalter- und Pagan-Welt längst hinter sich gelassen und erschafft Klangbilder, die über historische Romantik hinausgehen. Mit Harfen, Drehleier, Flöten und betörendem Gesang formen sie eine akustische Welt, die sich wie ein warmer Wind durch das Festivalgelände zieht. Inmitten der elektronischen Monumentalität schaffen Faun eine Oase – magisch, ruhig, entrückt.
Der Samstag gehört außerdem Chris Harms, der mit seinem Solo-Set neue Facetten seines musikalischen Schaffens präsentiert, während Solar Fake die Synthpop-Seele streichelt – melancholisch, melodisch, eindringlich. Universum 25 bringen mit NDH-Wucht und gesellschaftskritischer Haltung einen Sound auf die Bühne, der Haltung zeigt, während Faderhead mit seinem kraftvollen Electro das Nachtleben am Tag beginnt. Ost+Front, Funker Vogt, Tanzwut, Samsas Traum und viele weitere geben dem Samstag seine charakteristische Kante – laut, ehrlich, schmerzhaft, poetisch. Der erste Tag ist ein Rausch – aus Nebel, Beats, Licht und Geschichte.
Sonntag: Der letzte Tanz, das große Finale
Wenn der Sonntag anbricht, liegt eine gewisse Wehmut in der Luft. Zwei Tage Dunkelheit, zwei Tage Rausch, zwei Tage Gemeinschaft – und doch ist da noch einmal dieser Hunger. Der Sonntag beginnt mit der Eleganz, die das M’era Luna so sehr auszeichnet. And One eröffnen den Tag mit ihrem markanten Sound zwischen Synthpop, EBM und Szenesatire. Steve Naghavi ist Entertainer, Antiheld und Ikone zugleich – und seine Show auf dem M’era Luna gleicht stets einer liebevollen Abrechnung mit der Szene, der er sich so tief verbunden fühlt.
Subway to Sally hingegen bringen erneut episches Theater auf die Bühne. Ihre Shows sind wie inszenierte Erzählungen, ihre Musik ein Spagat zwischen Mittelalterinstrumentarium und metallischer Urgewalt. Wenn Eric Fish singt, dann singt er in Bildern – und das Publikum wird zum Teil seiner Geschichten.
Blutengel hüllen den Flugplatz anschließend in düsteren Glanz. Chris Pohl und Ulrike Goldmann erschaffen mit ihren Liveshows eine Welt voller Goth-Glamour, Synth-Romantik und melodischem Pathos. Ihre Lieder sind bittersüße Hymnen der Nacht, und live ist jedes Detail choreografiert, jeder Blick ein Versprechen.
Lacuna Coil bringen internationale Größe ins Spiel. Cristina Scabbia, stimmgewaltig, stilvoll, charismatisch, führt die Band durch ein Set zwischen Alternative Metal, Gothic und Melodie. Ihr Sound ist vielschichtig, ihr Auftritt elektrisierend. Versengold setzen dem eine bodenständige Variante entgegen – mit norddeutschem Folk, schlitzohrigem Humor und handgemachter Energie. De/Vision und In Strict Confidence laden derweil zur introspektiven Klangreise, Corvus Corax reißen mit archaischer Wucht alles nieder, was noch steht, und Rotersand verwandeln den Platz ein letztes Mal in einen Club unter freiem Himmel.
Coppelius, Leæther Strip, Manntra, SIERRA, Schattenmann, Massive Ego, Noisuf-X, Torul, Corlyx – sie alle geben dem Sonntag sein Gesicht, seine Tiefe, seine Kontraste. Und sie alle sind Teil eines Ganzen, das mehr ist als ein Festival. Der letzte Song des Wochenendes ist nie nur ein Lied – er ist ein Aufbruch, eine Erinnerung, ein Abschied auf Zeit.
Das M’era Luna als Gesamtkunstwerk
Doch das M’era Luna wäre nicht das, was es ist, wenn es bei Musik bliebe. Der Mittelaltermarkt, die Gothic Fashion Town, die Lesungen, die Workshops, die Hangarpartys – sie alle fügen sich zu einem Bild, das weit über das Line-up hinausgeht. Es ist diese dichte Atmosphäre, die dieses Festival unverwechselbar macht. Man kommt wegen der Bands – und bleibt wegen der Menschen, der Eindrücke, der Gefühle.
Ein Vierteljahrhundert M’era Luna – das sind 25 Jahre Musik, Magie, Begegnung. 2025 steht für die Geschichte einer Szene, die lebt, liebt, lacht, tanzt und trauert – und das alles in Schwarz. Wer dieses Festival besucht, wird nicht einfach Teil einer Veranstaltung, sondern Teil einer Bewegung, eines Moments, eines Lebensgefühls. Das M’era Luna ist nicht das lauteste Festival Deutschlands, nicht das größte – aber das intensivste. Und das wichtigste für alle, die in der Dunkelheit ein Zuhause gefunden haben.
- So war es 2024 beim 2024 beim M‘era Luna In Hildesheim
Foto: Anna Wyszomierska / FKP Scorpio