Es ist ein Freitagabend in Hannover, und Tocotronic gastieren in einer Stadt, die sie einst als „das Paris Niedersachsens“ bezeichnet haben. Das Capitol war lange vorab mit 1.600 Fans restlos ausverkauft, die Erwartungen hoch – und die Band liefert. Mit einem Auftritt, der nicht nur musikalisch überzeugt, sondern sich auch als vielschichtiges Statement zwischen Kunst, Kritik und Klang lesen lässt.
Schon der Einmarsch ist programmatisch. Punkt 21 Uhr beginnt der Abend mit „Rittertanz“, einem dramatisch aufgeladenen Orchesterstück von Sergei Prokofjew, das wie ein akustisches Ausrufezeichen wirkt. Kurz darauf entlädt sich mit „Der Tod ist nur ein Traum“ und „Bleib am Leben“ ein erster Doppelschlag. „Die Antithese zum ersten Lied“, wie Dirk von Lowtzow erklärt – und damit gleich zu Beginn deutlich macht, dass bei Tocotronic nichts zufällig geschieht. Dialektik als Bühnenprogramm.
Ironie und Ernst: Eine Gratwanderung
Von Lowtzow ist an diesem Abend in bester Form – lakonisch, intellektuell, manchmal herrlich überzogen. Er schmeichelt Hannover mit charmantem Zynismus, um dann den berühmten Satz ins Mikro zu schleudern: „Aber hier leben…“ – ein Aufruf, den das Publikum laut und entschlossen mit „…nein danke“ beantwortet. Der gleichnamige Song stammt aus einer Zeit, in der Tocotronic, so von Lowtzow, „Surrealismus und Antifaschismus“ miteinander vermengen wollten. Darunter macht es diese Band nicht.
Mit „Digital ist besser“ folgt früh im Set ein Stück Bandgeschichte, das heute vielleicht sogar relevanter ist als zu seiner Entstehungszeit. Der Hohn, der in der Zeile mitschwingt, hängt zwischen den Balken des Capitols wie ein Echo auf die Gegenwart.
Ein Ersatz, der keiner ist
Gitarrist Rick McPhall fehlt krankheitsbedingt. Doch mit Felix Gebhard (Hansen Band, Muff Potter, Einstürzende Neubauten) steht ein Musiker auf der Bühne, der seine Rolle nicht nur technisch souverän, sondern mit großer Gelassenheit ausfüllt. Von Lowtzow feiert ihn als „einen der größten Söhne Hannovers“ – das Publikum applaudiert zustimmend.
An der Seite von Jan Müller am Bass – dem „Dorian Gray des Diskursrocks“ – und Drummer Arne Zank, bilden sie ein Trio, das das Fundament für von Lowtzows Sprachbilder legt. Der Sound ist wuchtig, aber transparent. Nichts wirkt überladen, nichts beliebig. Jeder Song sitzt.
Der Mittelteil: Tiefer tauchen
In der Mitte des Sets wird es ernst, fast düster. Songs wie „Gegen den Strich“, „Sie wollen uns erzählen“, „Denn sie wissen, was sie tun“ und das neue „Der Seher“ sind keine leichte Kost. Tocotronic fordern ihr Publikum – musikalisch wie inhaltlich. Kein Refrain zum Mitschunkeln, keine eingängigen „Oh-oh-oh“-Momente. Stattdessen: Reflexionen über Macht, Zweifel, Selbstentfremdung.
„Wie ich mir selbst entkam“ und „Ich hasse es hier“ verdichten existenzielle Fragen auf dreieinhalb Minuten. Von Lowtzow schreit sie nicht heraus – er serviert sie mit bedachter Geste. Das ist Kunst, keine Pose.
Spätwerk mit Wucht
Das aktuelle Album „Nie wieder Krieg“ bildet mit drei Songs das Herzstück des letzten Konzertdrittels. „Bye Bye Berlin“, „Ich tauche auf“ und „Golden Years“ zeigen Tocotronic als Band, die auch in ihrer dritten Karrierephase noch mutig ist. Klanglich offener, lyrisch tiefer, aber kein Stück altersmild. Es sind Lieder über Flucht, Aufbruch und das Bedürfnis nach Wahrheit.
Der anschließende Ausflug in die frühen 2000er gelingt mit „Let There Be Rock“ und dem selten gespielten „Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen“, ehe das Set mit „Drüben auf dem Hügel“ und „Das Geschenk“ eine fast spirituelle Wendung nimmt.
Drei Zugaben – kein Kompromiss
Es ist längst klar, dass Tocotronic nicht mit Hits um sich werfen. Und doch geraten die drei Zugabenblöcke zu Höhepunkten des Abends. „This Boy Is Tocotronic“ und „Hi Freaks“ bringen Bewegung in den Saal. „Die Welt kann mich nicht mehr verstehen“ und „Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst“ sind bissige Selbstzitate, die an Präzision nichts eingebüßt haben.
Nach „Explosion“, das eher droht als explodiert, folgt mit „Freiburg“ der große Schlussmoment. Ein Stück, das längst zur Hymne geworden ist – für das Außenseitertum, den Eigensinn, das Andersdenken.
Keine Hymne, aber ein Haltungskonzert
Tocotronic spielen keine Gassenhauer, keine großen Melodien fürs Stadion. Und doch gelingt ihnen ein Abend voller Intensität, Bedeutung und Dichte. Ihre Songs sind keine Ohrwürmer – sie sind Gedanken, die sich festfressen. Hannover war an diesem Abend nicht bloß Kulisse. Es war Resonanzraum für eine Band, die auch im vierten Jahrzehnt ihres Schaffens nichts eingebüßt hat – außer den Wunsch, zu gefallen.
Setlist – Tocotronic
Capitol Hannover, 11. April 2025
Golden Years Tour
- Der Tod ist nur ein Traum
- Bleib am Leben
- Digital ist besser
- Aber hier leben, nein danke
- Gegen den Strich
- Sie wollen uns erzählen
- Denn sie wissen, was sie tun
- Der Seher
- Wie ich mir selbst entkam
- Ich hasse es hier
- Bye Bye Berlin
- Ich tauche auf
- Golden Years
- Let There Be Rock
- Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen
- Drüben auf dem Hügel
- Das Geschenk
- This Boy Is Tocotronic
- Hi Freaks
- Die Welt kann mich nicht mehr verstehen
- Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst
- Explosion
- Freiburg